„Psychisches Trauma“ - ein unmögliches Konzept

Die wissenschaftliche Erforschung psychischer Traumata weist inzwischen eine über hundertjährige Geschichte auf. Der Begriff wurde durch ergänzende Konzeptionen jedoch immer unübersichtlicher und unspezifischer verwendet. Der amerikanische Psychoanalytiker Joseph Sandler (1988) zitiert als Fazit einer von ihm durchgeführten Studie zur Klärung und Anwendung des Traumabegriffs Karl Kraus:

„Je näher man einen Begriff betrachtet, desto ferner blickt er zurück.“

In meinen folgenden Überlegungen werde ich in einem ersten Teil illustrieren, wie das Konzept „psychisches Trauma“ in der psychoanalytischen Literatur verwendet wird. In einem zweiten Teil möchte ich einen Klärungsvorschlag vorstellen, wie die unterschiedlichen Aspekte des Begriffs differenziert und zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

1. Aspekte der Bedeutung des Traumabegriffs

Verfolgt  man die Theoriegeschichte des Traumabegriffs, so kann mindestens zwischen vier verschiedenen Defintionen des Konzepts „psychisches Trauma“ unterschieden werden (vgl. Sandler et al., 1988):

I. Trauma als Verletzung oder Wunde in Analogie zum ursprünglichen medizinischen Sprachgebrauch als psychische Folgeerscheinung eines Ereignisses

II. Trauma als reales Ereignis im Sinne eines als schmerzlich erlebten überwältigenden Ereignisses im Gegensatz zu psychisch verarbeitbaren Erfahrungen

III. Trauma als Erlebnis im Sinne eines bedeutsamen Ereignisses in Abgrenzung zu seelisch unwichtigen Ereignissen und

IV. Trauma als unmittelbare oder langfristige Folge im Sinne einer nosologischen Kategorie

Ich möchte im folgenden detailliert auf die unterschiedlichen Definitionsversuche eingehen.  Dabei versuche ich der Theoriegeschichte des Begriffs zu folgen.

 

I. Trauma als Verletzung oder Wunde

Trama ist ein Begriff, der ursprünglich aus der Medizin stammt. Trauma ist die griechische Übersetzung des deutschen Wortes „Verletzung“ oder „Wunde“. Ganz allgemein sprechen Mediziner von „Trauma“, wenn sie Wunden oder Quetschungen meinen. Trauma ist in diesem Sinne eindeutig Folge eines Ereignisses und bezeichnet niemals den äusseren Anlass, der zur Verletzung führt.

In der psychoanalytischen Literatur ist das Konzept des „Traumas als Wunde“ immer an die Vorstellung der Existenz einer psychischen Struktur gebunden, in der allein ein Defekt im Sinne einer „psychischen Verletzung“ entstehen kann (vgl. Dreher, 1998).

Wenn der Traumabegriff in Analogie zum ursprünglichen medizinischen Sprachgebrauch verwendet wird, geht es in der Regel um Fragen des Behandlungsziels, der Prognose und der Prädisposition für spätere Traumata.  Generell gilt hier:

Je stärker strukturelle Sichtweisen vorherrschen, desto eingeschränkter wird das Behandlungsziel und desto ungünstiger die Prognose formuliert.  Der „psychische Apparat“ hat dann eben durch äussere Einwirkung einen Defekt, und der Patient muss damit leben, indem er lernt, sich mit dieser Einschränkung abzufinden. 

 

 II. Trauma als reales „äusseres“ Ereignis

Schon bei der Übernahme des Begriffs in den seelischen Bereich durch die Psychiater vor Freud hat die Bezeichnung gleichsam unter der Hand entscheidende Veränderungen ihres ursprünglichen Bedeutungsgehaltes erfahren. War und ist noch in der Medizin das Trauma - also die Wunde oder Quetschung - Folge eines Ereignisses, und nicht Ursache einer Verletzung, so wurde bereits bei Oppenheimer, Charcot, Janet und später durch Freud selbst „das Trauma“ bis in das verletzende Ereignis hinein verlängert und zum Teil ausschliesslich diesem gleichgesetzt  (vgl . Sandler et al., 1988).

- 1888 gebrauchte der Neuropathologe Oppenheimer den Terminus „traumatische Neurose“ erstmals für ein damals als „railway-brain“ oder „railway-spine“ bezeichnetes Leiden, dass er in Folge von Eisenbahnunglücken beobachtete. (Damit bezog Oppenheimer den äusseren Anlass mit in seine Krankheitsdefinition ein.)

- Charcot (1867; zit. In Fischer & Riedesser, 1998) beschrieb die „traumatische Hysterie“ und setzte als erster psychologische Konzepte zwischen das - gemäss seinem Verständnis des Begriffs - von aussen einwirkende Trauma und die späteren Symptome. In seiner Hypothese zur Genese der hystero-traumatischen Lähmung sprach er vom „nervösen Schock“ und von „krankmachenden Ideen.

- Pierre Janet (1904) - wie Sigmund Freud Schüler von Charcot - gebrauchte als erster den Begriff der Dissoziation als Erklärungskonzept. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung realer  traumatischer Ereignisse.

Freud entwickelte genau genommen zwei Traumatheorien. In seiner ersten Konzeption schreibt er „äusseren“ Ereignissen eine traumatische Wirkung zu, wie z.B. in den „Studien zur Hysterie“ (1875), wo er davon überzeugt ist, dass reale Verführungserlebnisse durch „Bedienstete, Erzieher und Geschwister“ jeder späteren hysterischen Störung zugrundeliegen.

Betrachtet man aus heutiger Sicht die Literatur zum Traumabegriff unter dem genannten Gesichtspunkt, findet sich inzwischen eine umfangreiche Sammlung traumatischer Ereignisse: Am gebräuchlichsten ist die Unterscheidung zwischen „Schocktrauma“ (Fenichel, 1945) und „kumulativem Trauma“ (Khan, 1963) oder sequentiller Traumatisierung (Keilson, 1979). Ein Schocktrauma wird durch massive äussere Ereignisse wie Vergewaltigung, Kriegserlebnisse oder Naturkatastrophen ausgelöst. Im Gegensatz zu einem Schocktrauma ist ein kumulatives Trauma kein einmaliges Ereignis. Es zeichnet sich dadurch aus, dass über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder belastende Erfahrungen gemacht werden, die nur kumulativ traumatisch wirken. Kumulative oder sequentielle Traumatisierung kann sogar gravierendere Auswirkungen auf die Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen haben, vor allem, wenn die traumatischen Erfahrungen durch Personen der eigenen Familie erfolgen.

 

III. Trauma als Erlebnis

Wird Trauma als Erlebnis definiert, finden sich die Wurzeln dieses Verständnisses des Begriffs wiederum bei Freud. In seiner zweiten Traumatheorie (etwas ab 1905) relativierte er die Auffassung, dass neurotische Störungen immer auf reale äussere Verführungserlebnisse zurückgeführt werden müssten, indem er die Bedeutung innerer Faktoren - unakzeptable, unerträgliche, intensive Triebwünsche - und -impulse, hervorhob.

In „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926) betonte er, das Wesentliche an der traumatischen Neurose sei, dass es sich um eine Erfahrung der Hilflosigkeit des Ichs angesichts einer unerträglichen Erregungshäufung handle, gleichgültig, ob äusseren oder inneren Ursprungs. Er begriff nun das Ich als diejenige seelische Instanz, die den Menschen vor Traumata schütze. Indem er „die Hilflosigkeit des Ichs“ als den Moment der Traumatisierung betrachtete, definierte er das Trauma als Erlebnis. Gleichzeitig erweiterte er den Ereignis-Erlebnis-Zusammenhang in seiner zweiten Traumatheorie, indem er auch inneren Faktoren eine traumatische Qualität zuschrieb.

Diese erneute Umdefinition des Begriffs führte in der späteren Theorieentwicklung zu einer Ausweitung des Konzepts. Jedes Ereignis im Leben eines Patienten, das irgendwie psychisch relevant ist, wie z.B. die Geburt eines Geschwisters oder ein Wohnungswechsel, wurde als „Trauma“ bezeichnet. Die von Freud beschriebene Bedingung, dass nur dann von Trauma gesprochen werden darf, wenn die Schutzfunktion des Ichs angesichts „unerträglicher Erregungshäufung“ zusammenbricht - es sich also um eine Zusammenbruchssituation handelt - , fiel stillschweigend unter den Tisch. Anna Freud (1967) beklagte dementsprechend die Sinninflation des Konzepts, die den Traumabegriff schliesslich weitgehend unabgrenzbar macht, da sich das scheinbar unwichtigste Ereignis als wichtig herausstellen kann.

Dieser Gebrauch des Traumabegriffs hatte zudem zur Folge, dass Ereignisse in die Definition einbezogen wurden, die keine oder sogar positive Folgen haben. Z.B. entstanden aus entwicklungspsychologischer Perspektive in den fünfziger Jahren Arbeiten, die Traumata als entwicklungsfördernd betrachteten.  Hoffer (1952) schrieb den „stillen Traumata“, d.h. Zuständen der Hilflosigkeit des Säuglings, eine wesentliche Rolle für dessen Hinwendung zu den Objekten der Aussenwelt zu. Stern (1974) betonte die Entwicklung und Bedeutung der Antizipationsfunktionen. Er führt die Entstehung der psychischen Organisation des Menschen, deren grundlegende Komponente für ihn die Antizipation als Basis für Phantasie und Denken darstellt, auf die Folge von Traumen zurück, denen der Mensch durch seine phylogenetische und ontogenetische Hilflosigkeit ausgesetzt sei. Bei Hoffer wie bei Stern wird damit Trauma mit  dem Erleben von Hilflosigkeit gleichgesetzt.  Gefühle der Hilflosigkeit implizieren jedoch nicht zwangsläufig den Zusammenbruch der Ich-Funktionen.

Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass mit entwicklungspsychologischen und - damit verknüpft -  objektbeziehungstheoretischen Ansätzen die Bedeutung äusserer Objekte hervorgeboben wurde. Die Rolle der Mutter, ihre Reizschutz- und „Haltefunktion“ (Winnicott, 1960) gegenüber dem abhängigen Säugling und damit der Einfluss der Objekte und Objektbeziehungen des Kindes rückten in den Vordergrund. Während  Freud die Schutzfunktion des Ichs - einer intrapsychischen Funktion - betonte, fand in entwicklungspsychologischen Ansätzen in gewissem Sinne wiederum eine Verschiebung nach „aussen“ statt. Die Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson, die Qualität der Objektbeziehung, entscheidet nun darüber, ob erschütternde Ereignisse traumatisch erlebt werden.

Dies hatte Auswirkungen auf das Behandlungsziel. Im Vergleich zur strukturellen Sichtweise, wo „Trauma als Wunde“ definiert wird,  gibt es in objektbeziehungstheoretischen Ansätzen keinen Defekt im Sinne einer Wunde. Es ist die Qualität der Objektbeziehungen - der früheren und der gegenwärtigen - die darüber bestimmt, ob Fixierungen entstehen oder aufgelöst werden. Daraus ergibt sich ein im Gunde uneingeschränktes Behandlungsziel, die Prognose ist von der Qualität des Beziehungsangebots und der Einfühlung des behandelnden Analytikers abhängig.

 

IV. Trauma als unmittelbare oder langfristige Folge im Sinne einer nosologischen Kategorie

„Trauma“ als nosologische Kategorie kennzeichnet schliesslich eine Sammlung psychischer Störungen, bei denen äussere Ereignisse eine grosse oder, im Zusammenhang mit anderen Faktoren, eine akzessorische Rolle spielen. „Traumapatienten“ haben traumatische Störungen, eine traumatische Neurose oder eine traumatische Hysterie.

Wie erwähnt, gebrauchte Oppenheimer als erster den Begriff der traumatischen Neurose. Freud unterschied zeitlebens von den wesentlich durch die „psychische Realität“ bedingten traumatischen Erlebnissen  durch äussere Einflüsse herbeigeführte Traumen, wie z.B. traumatische Kriegsneurosen und andere massive, „die bisherigen Grundlagen des Lebens erschütternde“ traumatische Ereignisse, die er zwar für die Betroffenen als mit schweren Leiden und einer „Fixierung“ an die Vergangenheit verbunden sah, aber klar aus der Psychopathogenese der Neurosen ausklammerte (1916/17, S.285).

Wird Trauma im Sinne einer nosologischen Kategorie gebraucht, finden sich in der Literatur inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher Syndrome, die verschiedenen Formen der Traumatisierung zugeordnet werden können. Vor allem in den sechsziger Jahren, infolge des Erlasses der Entschädigungsbestimmungen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Deutschland,  entstanden zahlreiche Arbeiten, in denen spezifische Syndrome als Folge von Extremtraumatisierung formuliert wurden. Z.B. Niederland (1980) führte den Begriff „Überleben-Syndrom“ ein, der beschrieb, wie sich die Umweltbedingungen der KZ-Inhaftierung durch den Nationalsozialismus langfristig auf die psychische Struktur auswirken.  Wichtige Symptome sind: Angst, Erinnerungsstörungen, chronische depressive Zustände,  Isolation und Rückzug in sich selbst,  psychotische und psychosomatische Symptome, Störungen des Identitätsgefühls und die sogenannte „Überlebensschuld.“

Grubrich-Simitis (1979) beschrieb das „Muselmann- Syndrom“ als Endphase eines psychischen Zerfallsprozesses, gekennzeichnet durch Fatalismus, Zerfall der Körperkräfte und Rückzug von der Realität bis zum totalen Verlust der eigenen Aktivität.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nach Durchsicht der Literatur auffällt, wie komplex und widersprüchlich das Konzept „psychisches Trauma“ verwendet wird:

- Hervor sticht die Tendenz, den Begriff bis zur Unabgrenzbarkeit auszuweiten, wenn z.B. jede belastende Lebenssituation als Trauma bezeichnet wird.

- Weiterhin herrscht Unklarheit darüber, ob ein äusseres Ereignis oder die psychischen Folgen einer realen Situation definieren, ob ein Trauma vorliegt. Die reale, auslösende Situation selbst wird zwar oft explizit als „das Trauma“ bezeichnet, implizit letztlich jedoch selten als allein schon „traumatisch“ verstanden. Eine Ausnahme sind Arbeiten über Extremtraumatisierung. Hier besteht Einigkeit darüber, dass es Geschehnisse gibt, die von solch schrecklicher Intensität sind oder kumulativ über einen so langen Zeitraum intensiv einwirken, dass sie bei praktisch allen Menschen pathologische Wirkungen haben, unabhängig von individuellen psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten.

- Verwirrung entsteht auch bei der Frage, ob die psychische Verarbeitung, - d.h. die seelischen Bewältigungsversuche, die durch ein erschütterndes Ereignis ausgelöst werden, - als Trauma bezeichnet werden oder die seelischen Folgen einer inneren oder äusseren Reizüberflutung das „Trauma“ ausmachen. In den meisten Arbeiten wird nicht klar zwischen dem Verarbeitungsprozess und den bleibenden seelischen Schäden differenziert.

Damit bleibt unklar, wo auf einer Zeitachse betrachtet, das „Trauma“ lokalisiert werden könnte:

Ist es ein gravierendes äusseres Ereignis oder

die unmittelbare Erfahrung, die mit diesem Geschehnis einhergeht,

ist es der psychische Verarbeitungsprozess, der einschneidenen Ereignissen folgt

oder sind es die unmittelbaren psychischen Folgen einer überwältigenden Erfahrung

oder ist es der bleibende Defekt in der psychischen Struktur?

 

2. Ein Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung

Gottfried Fischer und Peter Riedesser (1998) entwickelten ein „Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung“, das in drei Phasen eingeteilt werden kann: Traumatische Situation, traumatische Reaktion und traumatischer Prozess.

Die traumatische Situation

Unter traumatische Situation werden die äusseren Umstände verstanden, die letztlich bei den Betroffenen ein Trauma verursachen. Während in der kognitionspsychologischen Traumaforschung sich der Begrif der traumatischen Situation eindeutig auf die äusseren Umstände bezieht  - z.B. Kriegserlebnisse oder Naturkatastrophen -, wird bei Fischer und Riedesser und in psychoanalytischen Arbeiten unter der traumatischen Situation auch der Ereignis-Erlebnis-Zusammenhang verstanden. Bestimmten Ereignissen wird nicht  per sé  - unabhängig vom Individuum - eine traumatische Qualität beigemessen,  sondern es wird davon ausgegangen, dass realen Situationen ein für alle Menschen gleichartiges „traumatisierendes Potential“ beigemessen werden kann.  Damit bestimmt die Wechselwirkung zwischen realer Situation und psychischer Disposition, ob es zu einer traumatischen Wirkung kommt.

Wie bei der Literaturdurchsicht weiterhin deutlich wurde, wird in psychoanalytischen Arbeiten die traumatische Situation auch als Phantasie-Erlebnis-Zusammenhang gesehen. D.h., es wird davon ausgegangen, dass auch innere Faktoren, z.B.  imaginierte Situationen in Form von Phantasien oder überwältigende Triebveränderungen (z.B. in der Pubertät) eine traumatische Qualität besitzen können, wenn sie im subjektiven Erleben von starken Affekten begleitet werden.

Wird die traumatische Situation als Ereignis-Erlebnis- oder Phantasie-Erlebnis-Zusammenhang definiert, wird der „Ort“ des Traumas klar nach innen gelegt. Denn gleichgültig, ob das traumatische Ereignis sich in der Aussenwelt abspielt oder in Form überwältigender Triebimpulse stattfindet, die Erfahrung, das Erleben der Traumatisierung, wird als ein intrapsychischer Prozess verstanden, der durch Gefühle der Hilflosigkeit, Angst und Panik gekennzeichnet ist.

Die traumatische Reaktion

Die traumatische Reaktion stellt auf psychologischer Ebene die individuellen Abwehr- und Bewältigungsversuche dar, muss aber als psychophysiologische Gesamtreaktion verstanden werden. Traumaforscher sind sich heute einig, dass die aktuten Symptome von Traumastörungen nicht nur aufgrund psychologischer Erklärungsmodelle verstanden werden können, sondern auch physiologische Veränderungen als Ursache und Folge haben.

Auf psychologischer Ebene hat der amerikanische Psychoanalytiker Mardi Horowitz (1976) als normale Reaktion auf ein Trauma den Wechsel zwischen Verleugnung und Reizüberflutung beschrieben und diese Notfallmassnahme als notwendig zur Integration der traumatischen Erfahrung gedeutet. Die traumatische Reaktion ist in diesem Sinne eine normale Antwort auf eine aussergewöhnliche Situation, d.h.  keine Krankheit und auch keine Wunde (im Sinne des ersten erwähnten Traumaverständnisses.)

Der traumatische Prozess

Während die traumatische Reaktion zur Zeit der traumatischen Ereignisse - also unmittelbar oder nur kurze Zeit danach - eintritt, stellt der traumatische Prozess den lebensgeschichtlichen Bewältigungsversuch der traumatisierten Persönsichkeit dar. Fischer und Riedesser unterscheiden zwischen mittelfristigen und langfristigen traumatischen Prozessen. Von langfristigen traumatischen Prozessen sprechen sie, wenn z.B. Kindheitstaumata stattgefunden haben. D.h. für die Behandlung, dass sich das Individuum nicht mehr in derselben Entwicklungsphase befindet, in der das traumatische Ereignis stattfand. Die traumatische Reaktion - die erste unmittelbare Anpassung - geht in die weitere Entwicklung ein, kann sie stören oder auch eine Entwicklungsarretierung verursachen. Die spätere Anpassung stellt somit eine Anpassung an die unmittelbare Reaktion des Individuums dar und führt - früher oder später - zu Pathologie, Entwicklungsabweichungen oder Charakterstörungen, d. h. zu verschiedenen klinischen Bildern, die selbst wieder zur Prädisposition für spätere Traumatisierungen werden können.

Der Traumatisierungsprozess kann in diesem Sinne als eine Art zirkulärer Prozess verstanden werden. Insbesondere bei kumulativen Traumatisierungen führt jede neue Traumatisierung zu Rückkoppelungen.

Zwischen dem Prozess der Traumatisierung und dessen Folgen zu unterscheiden bringt meiner Meinung auch etwas“ mehr Klarheit in das Verhältnis der Begriffe Trauma und Konflikt (vgl. Barwinski Fäh, 1992).

Dem psychoanalytischen Konfliktmodell liegt die Annahme zugrunde, dass neurotische Reaktionen und Symptombildungen auf einen inneren unbewussten Konflikt zurückgeführt werden können. Ein innerer unbewusster Konflikt wird von Mentzos (1982) definiert als unbewusste innerseelische Zusammenstösse entgegengesetzter Motivbündel (z.B. steht die Angst, sich zu trennen mit dem Wunsch nach Autonomie in Konflikt.)

Wenn die traumatische Situation auch auf innere Faktoren - Phantasien und Triebimpulse - ausgeweitet wird, dann könnten auch entgegengesetzte Motivbündel, d.h. neurotische Konflikte, traumatisierend sein - so könnte man einwenden.  Aufgrund der Differenzierung zwischen traumatischer Situation und traumatischem Prozess, kann dem entgegengehalten werden, dass die traumatische Situation kein Konflikt ist, sondern in deren Folge Konflikte entstehen können. Phänomenologisch betrachtet ist die traumatische Situation durch überwältigende Affekte gekennzeichnet, bedingt durch den kurzfristigen Zusammenbruch der Ich-Funktionen. D.h., es sind nicht die Konflikte, die traumatisch sind, sondern unlösbare Konflikte sind Kennzeichen des der traumatischen Situation folgenden Verarbeitungsprozesses.

Wie Konflikte infolge traumatischer Situationen entstehen können, beschreibt Léon Wurmser (1996). Er geht davon aus, dass in der traumatischen Situation ein nicht zu bewältigender äusserer Konflikt zwischen Selbst und Umwelt deutlich wird, wobei sich dieser Konflikt zwischen Selbst und Aussenwelt zu einem bewussten, aber unlösbaren inneren Konflikt verwandelt.

Die Übereinstimmung mit Ergebnissen der kognitionspsychologischen Traumaforschung ist evident (vgl. Catlin, G. & Epstein, 1992): Forschungsergebisse belegen, dass bei Kindern oder  Erwachsenen, die Traumata ausgesetzt sind, Diskrepanzen zwischen den verschiedenen einströmenden Daten zu einer verzweifelten Suche nach Erklärungen führen,  die dem Ereignis einen Sinn geben können.  Die psychische Aktivität  bleibt andauernd mit dem Unterschied zwischen eigenen Werten und Realitätswahrnehmungen beschäftigt. Gleichzeitig drängen die Erinnerungen  mit intrusiver Qualität immer wieder ins Bewusstsein (Catlin & Epstein, 1992). Die Betroffenen bleiben in ihren Gedanken und Gefühlen an die traumatische Situation  fixiert.

Für die Folgen einer Traumatisierung schlagen Sandler und Mitarbeiter (1987) vor, zwischen unmittelbaren, in enger zeitlicher Konkordanz sich zeigenden Kurzzeitfolgen und den mittelbaren Folgen, die sich zeitlich weit erstrecken können bzw. sich erst nach  längerer Zeit überhaupt manifestieren können - den  Langzeitfolgen  - zu unterscheiden. Zu den Kurzzeitfolgen zählt  z.B. das Posttraumatische Belastungssyndrom - kurz PTBS -,  dass sich durch die Symptom-Trias von „unfreiwilligen Erinnerungsbildern vom Trauma, Verleugung/Vermeidng und Errregung“ auszeichnet. Bei einem schlechten Verlauf  kann das PTBS auch in ein chronisches Zustandsbild übergehen.

Die Langzeitfolgen können - wie beschrieben - nicht mit einem bestimmten Symptomkomplex oder einer diagnostischen Kategorie erfasst werden, sondern werden von der persönlichen Vorgeschichte wie der Schwere der Traumatisierung, aber auch den den Verarbeitungsprozess begleitenden Umständen, z.B. ob Bezugspersonen zur Verfügung stehen,  bestimmt.

Eine spezifische psychische Auswirkung ist nach Fischer jedoch bei allen Formen der Traumatisierung zu beobachten. Eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, d.h. des Grundvertrauens, sich auf die eigenen Fähigkeiten verlassen zu können sowie sich vertrauensvoll auf seine Umwelt abstützen zu können. Dementsprchend definieren Fischer und Riedesser den Traumabegriff als

„ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“.

Als Fazit meiner Ausführungen müsste ich eigentlich festhalten, dass man am besten den Begriff „psychisches Trauma“ abschaffen würde und statt dessen nur noch von traumatischer Situation, traumatischer Reaktion, traumatischem Prozess und dessen Folgen sprechen sollte. Der Begriff schafft Verwirrung, indem er einer differenzierten Betrachtung der mit  seelisch überwältigenen Erfahrungen einhergehenden psychischen Prozesse und Folgen im Wege steht.

Was ist der Vorteil des beschriebenen Modells?

1. Die Verwirrung darüber, ob das Trauma „innen“ oder „aussen“ stattfindet, wird geklärt, indem zwischen der  traumatischen Situation,  der psychophysiologischen Reaktion und dem folgenden „inneren“, seelischen Verarbeitungsprozess differenziert wird.  Die traumatische Situation wird in der psychoanalytischen Literatur zwar auch auf innere Faktoren ausgeweitet, doch mit der Unterscheidung zwischen traumatischer Situation und traumatischem Prozess wird auch eine Differenzierung möglich, wenn Ursache wie Prozess sich im intrapsychischen Raum abspielen.

2. Indem „psychische Traumatisierung“ in Form eines Verlaufsmodells beschrieben wird,  wird die zeitliche Dimension in das Konzept eingeführt.  Damit wird eine zeitliche Situierung der mit traumatischen Erfahrungen einhergehenden seelischen Phänomene möglich und gleichzeitig der traumatische Prozess als in die Lebensgeschichte und  -entwicklung eingebunden betrachtet.

3. Von traumatischer Situation, traumatischem Prozess und dessen Folgen zu sprechen, beugt einer Ausweitung des Begriffs in dem Sinne vor, dass z.B. Begriffe wie „benigne“ oder „positive“ Traumen aus der Definition ausgeschlossen werden. Ein traumatischer Prozess führt definitionsgemäss zu pathologischen Folgen und eine traumatische Situation ist niemals positiv! Wir sprechen ja auch im Alltag nicht von einem „positivem Unfall“ oder „gutem Unglück“. 

Mit der Differenzierung des Traumabegriffs in drei Phasen wird es jedoch möglich, (negative) traumatische Prozesse von konstruktiven - für die Persönlichkeitsentwicklung förderlichen - Verarbeitungsprozessen zu unterscheiden,  ohne damit das in der traumatischen Situation erlebte Grauen als positiv umzudeuten.

 

aus: Internet-Zeitschrift für Psychotraumatologie, Nr. 1, Thieme-Verlag, 2000

© Dr. phil. Rosmarie Barwinski Fäh

 

Literatur:

Barwinski Fäh, R. (1992): Arbeitslosigkeit: Trauma oder Konfliktreaktivierung?; Forum der Psychoanalyse, 8: 311-326.

Catlin, G. & Epstein, S. (1992): Unforgetable experiences: the realltion of life events to basic beliefs about self and world; Social cognition, 19, 189-209.

Dreher, A. U. (1998): Empirie ohne Konzept? Einführung in die psychoanalytische Konzeptforschung; Verlag Internationale Psychoanalyse, Stuttgart

Fischer, G. & Riedesser, P. (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie; Reinhardt, München

Fenichel, O. (1945): Psychoanalytische Neurosenlehre; Walter, Olten

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Grubrich-Simitis, I. (1979): Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma; in: Psyche 33, 991-1038.

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Wurmser, L. (1996): Defizit, Defekt, Konflikt und narzisstischer Teufelskreis. Vortrag gehalten in Hannover, Psychoanalytische Gesellschaft, 16. Okt., 1996; und Regensburg, Psychoanalytische Gesellschaft, 19. Okt., 1996.  

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