Noch einmal leben 

Ein stattliches Haus mit hohem Giebel, einst für zwei Familien gebaut, mit einem Garten in der Grösse eines zweiten Bauplatzes zur Seite, verbirgt sich hinter den Kronen der Bäume, die noch im Erstellungsjahr an dessen Umfriedung zum Schutz gegen Winde und Nachbarn gepflanzt worden waren, je eine Buche, eine Linde und eine Birke, gleich alt und gleich hoch wie das Haus. Heute schützen die Bäume die Nachbarn vor der einstigen Villa, die im Lauf der Zeit verwitterte und nun trotz ihrer Grösse schäbig wirkt. Mitten im bürgerlichen Quartier erscheint sie wie ein fremder Kon­tinent. Jahrelang beherbergte sie Asylsuchende aus aller Welt, doch 1992, nach dem Ausbruch des Krieges in Bosnien, wurde sie Frauen und Kindern zur Verfügung gestellt, die von den ethni­schen Säuberern vertrieben worden waren, fünfzig Frauen und Kindern, welche die Schweiz zunächst für die Dauer von drei Monaten aufnahm, deren Aufenthalt aber infolge des andauernden Kriegs sich in einer mehrmals erneuerten Vorläufigkeit über meh­rere Jahre bis zum letzten Spätherbst erstreckte. Als ich das Haus kennenlernte, bebte es vor Unruhe, vor zusammengedrängten Schicksalen und Spannungen. Durch die Wände und Korridore, von Stockwerk zu Stockwerk, drangen aus den Zimmern Stimmen, Frauenstimmen, Radiostimmen, Kinderstimmen, schrille, helle, flüsternde, dunkle. Spätnachts ebbten die Stimmen ab, verstumm­ten zeitweise, Säuglinge weinten in verzweifelten Stössen. Nach Mitternacht, besonders gegen Morgengrauen gellten manchmal Schreie auf, die Schlaflosen hielten den Atem an, Frauenstimmen dann, Schluchzen, Stille. Omer S. schrie fast Nacht für Nacht.

Er war neun Jahre alt gewesen, als in Br. der Krieg losging. In der Strasse, wo sie wohnten, lebten fast lauter Verwandte, Onkel und Tanten und verschwägerte Onkel und Tanten und deren Kin­der.  «Wir waren im Haus drin, wir alle, es war noch früh, fast noch dunkel. Draussen war plötzlich ein Geschrei, laut wurde gegen die Türe geschlagen, Männer in Uniformen stürmten herein, einen kannte ich, er hatte in einer anderen Strasse gewohnt. Wir wurden auf die Strasse getrieben. Der Vater wurde furchtbar geschlagen, die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt.»  Omer legt den Kopf auf den Tisch, verbirgt sein Gesicht in den Armen, er kann nicht weitersprechen.

Von Fatinia S., der Mutter, erfahre ich, dass Omer von zwei Uniformierten weggeführt wurde, dass ihm eine Pistole in die Hand gedrückt wurde, dass er gezwungen wurde, die Pistole auf seinen Vater zu richten, der von den Schlägen aus dem Mund blu­tete. Auch Fatima mit den zwei weinenden kleinen Mädchen an der Hand habe geschrien, sie habe Omer zu sich ziehen wollen, zum Mann laufen wollen, um ihn zu schützen, doch sie sei von Uniformierten mit Gewalt zurückgehalten und gezwungen worden zuzuschauen. Die Tortur habe entsetzlich lange gedauert, vielleicht auch nur Minuten, dann sei unter Hohngelächter Omer die Pistole aus der Hand geschlagen worden.  «Der Bub fiel wimmernd zu Boden, sprang plötzlich auf, wollte zum Vater rennen, doch dieser war schon weggetrieben worden, überall waren Uniformierte, es wurde geschrien, geschossen, ein schrecklicher Lärm; hinten in der Strasse brannte ein Haus, ein Camion fuhr vor, die Kinder und Frauen wurden hinaufgetrieben wie Schafe, immer noch mehr, brutal, mit Schlägen, alle weinten und schrien, dann fuhr der Camion los. Wir wussten nicht wohin. Alles blieb zurück.»

Die Reise in die Schweiz dauerte Monate, die Erfahrungen unterwegs waren nochmals traumatisierend. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes erfuhr Fatima schliesslich, dass ihr Mann lebte, dass auch er nach Frau und Kindern geforscht hatte. Er war den Schergen entkommen und hatte sich nach Kroatien, dann in die Schweiz durchgeschlagen. Eines Tages traf er im Durchgangszentrum ein.  Alte Frauen und Kinder feierten ein Fest. Wochenlang wich Omer kaum von seiner Seite.  Allmählich wurden die Albträume seltener.

Vor einigen Monaten erhielt die kleine Familie den gefürchteten Brief aus Bern, ihr Aufenthalt in der Schweiz sei abgelaufen, sie müssten wieder zurück in ihre Heimat. «Ist Heimat dort, wo man vertrieben wurde?» fragt Fatima. Die Schrecken von damals werden wieder wach und fallen über sie her wie Hunde. «Könnten wir doch nochmals leben, ohne Angst, leben mit der Gewissheit, dass das Leben sich lohnt, dass die Menschlichkeit stärker ist als die Bosheit. Weisst du wie? Hier oder dort?»

Wie könnte ich es wissen? «Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben», hat Walter Benjamin in einem seiner Essays geschrieben, Jahre bevor ihn die Nazis zum Flüchtling machten.

Es gibt ein Kontinuum des Leidens, das nichts mit der menschlichen Sterblichkeit zu tun hat, die zu ertragen schwer genug ist, sondern mit der Perversion des Quälens. Die Geschichte der Gequälten ist zugleich die Geschichte des Widerstands gegen Menschenverachtung und Unterdrückung, ist auch die Geschichte der immer wieder versuchten Wiederherstellung der Menschlichkeit. Darin besteht die vielleicht wichtigste Aufgabe der Therapie. Therapie soll ein Gegenmodell zum System der Unterdrückung sein, «Therapie» ein anderes Wort für «Kultur», heisst es bei Freud.

Im August 1995 wurde in Bern das Therapiezentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) für Folteropfer eingerichtet, vor rund 17 Monaten hat es seine Tätigkeit aufgenommen, seither haben an die hundert Menschen, die schwere psychische und körperliche Gewalterfahrungen durchgemacht haben, um eine Therapie nachgesucht. Auch wenn die Finanzierung auf wackligen Füssen steht und die Mittel überaus knapp sind, konnten an die sechzig Frauen und Männer Hilfe finden. Mehr Geld und eine grössere Anzahl fähiger Therapeutinnen und Therapeuten wären erforderlich, um den Bedürfnissen der vielen traumatisierten Flüchtlinge genügen zu können. Im Frühsommer 1996 begann daher an der Universität Bern für ein paar Dutzend Fachleute aus der ganzen Schweiz eine interdisziplinäre Weiterbildung, die Conrad Frey, der Leiter des Therapiezentrums, ein Spezialarzt in Psychiatrie und Psychotherapie, gemeinsam mit dem Völkerrechtsprofessor Walter Kälin organisiert.

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Zu den Flüchtlingen, denen geholfen werden konnte, gehört Eniza Z. Seit die junge Frau im Sommer 1993 mit ihren Eltern und ihrem damals zweijährigen Sohn aus dem kriegsverwüsteten Bosnien in die Schweiz gekommen war, quälten sie Albträume und ständige Traurigkeit. Schon im Durchgangslager, wohin sie mit Hunderten von Frauen und Kindern aus der Umgebung von Be. getrieben worden war, hatte sie darunter gelitten, aber dort gab es einen Zusammenhalt im Entsetzen und in der Ratlosigkeit. Zugleich brannte damals noch ein kleines Licht in ihr: die Hoffnung, dass ihr Mann lebte. In der Schweiz jedoch nahm das Gefühl der inneren Lähmung und der Verlorenheit überhand, obwohl es ihr hier, fern vom Krieg, eigentlich hätte besser gehen sollen. Das kleine Licht wärmte kaum mehr, wurde immer schwächer und matter. Die Therapeutin hörte zu, und indem Eniza erzählte, erkannte sie zunehmend klarer, worunter sie litt.

Eines Morgens im Herbst 1992 waren mit Gewehren bewaffnete Uniformierte ins Haus gestürmt, hatten sie, ihre Mutter und das Kind aus dem Keller gejagt, in dem sie sich versteckt gehalten hatten, und. so wie sie waren, ohne Schuhe an den Füssen und ohne ein Milchfläschchen für das Kind, wurden sie weiter getrieben in den Hangar, wo eng zusammengedrängt die andern Frauen und Kinder des Ortes im ungewissen ausharrten. Das war ein Weinen und eine Verzweiflung, kaum auszuhalten, zumal damals niemand wusste, was mit den Männern geschehen war.

Sowohl Enizas Vater als auch ihr Ehemann waren von serbischen Soldaten gefangengenommen worden. Mehr konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Wo immer sie Fragen stellte, stiess sie auf eine Mauer des Schweigens. Einige Monate später kam der Vater aus einem der Gefangenenlager frei, nachdem das IKRK Zutritt erhalten und die Weltpresse über die von den Insassen erduldeten KZ‑ähnlichen Torturen zu berichten begonnen hatte.

Der Vater wurde mit seiner engsten Familie ‑ seiner Frau, seiner Tochter Eniza und deren kleinem Sohn ‑ in der Schweiz als anerkannte Flüchtlinge aufgenommen. Über die Zeit im Lager schwieg er sich aus. Wo war Enizas Ehemann? Warum war er nicht mit dem Vater aus dem Lager entlassen worden? Je länger das Nichtwissen andauerte, desto schwächer wurde Enizas Lebenskraft. Die Wirklichkeit zog sich immer mehr zurück, das Gefühl der Leere und eine beklemmende, unbenennbare Angst beherrschten sie zunehmend. Eines Tages, als das Fernsehgerät eingeschaltet war, wurden über den bosnischen Sender Namen getöteter Gefangener verlesen, Hunderte von Namen. So erfuhr Eniza, dass ihr Mann tot war.

Endlich hatten ihre Gefühle wieder einen Namen. Trauer überflutete sie, auch Grauen und Mitleid, als sie allmählich vom Vater erfuhr, was sich im Lager zugetragen hatte. Auch er musste nun nicht länger schweigen: «Es ist Zeit, Eniza, dass du es weisst.» Ihr Samir war mit etwa fünfzig anderen Gefangenen in einen Raum gepfercht worden. So eng war es, dass sie sich kaum bewegen, geschweige denn ausstrecken konnten. Als die Gefangenen protestierten und mehr Platz forderten, fielen Dutzende von Soldaten über sie her und schlugen sie mit Kolben und Eisenstangen zu Tode, alle fünfzig, ohne Ausnahme.

Heute weiss Eniza, wo ihr Platz ist. Sie will leben, auch hier in der Schweiz will sie nicht bloss überleben. Ihr Sohn soll ohne Hass aufwachsen; die Spiele teilt er mit Kindern aus Kroatien und aus Serbien, die im gleichen Haus wohnen. Grosse Sorgfalt lässt sie allem angedeihen, was im Krieg entwertet worden war, von ihrem Äussern über die Gestaltung der Wohnung bis zu den Beziehungen mit den ihr verbliebenen nahestehenden Menschen. Da wo sie Asyl gefunden hat, soll der Krieg nicht weitergehen. Doch unversehens, ohne Vorwarnung, geschieht es, dass er Eniza wieder einholt, dass irgendeine banale Kleinigkeit sie in eine Situation des Schreckens zurückwirft. Neulich, als ihre Mutter eine Suppe zubereitete, sah sie anstelle der Mutter eine der Nachbarinnen im Durchgangslager vor einem leeren Topf stehen, um sie herum die weinenden Kinder. Nichts hatte die Frau gehabt, um den Hunger der Kinder zu stillen. Wie damals wurde Eniza von Panik ergriffen, in der aufgezwungenen Hilflosigkeit selber ihrem Kinde gegenüber schuldig zu werden.

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Viele Flüchtlinge, die lange Jahre der Quälerei durchgestanden haben, fühlen sich jenen gegenüber in der Schuld, die nicht mehr leben. Der Kurde Cemal Miran, der neun qualvolle Jahre in türkischen Gefängnissen zubringen musste, bat mich eindringlich, vor allem die Namen jener aufzuschreiben, die für, die Freiheit Kurdistans mit ihrem Leben bezahlten. Er selber starb mehrere Tode, scheint mir, obwohl er lebt. Heute kann er wieder gehen, langsam, schwankend, Die Füsse schiebt er dem Boden entlang, hebt sie behutsam über Unebenheiten hinweg, über Türschwellen und niedere Stufen. Kopf und Hände zittern, das Sprechen bereitet Mühe.

Cemal ist 36 Jahre alt, grossgewachsen und schmal. Im Gespräch lebt er spürbar auf. Ich habe das Gefühl, er sei fürsorglich sich selbst gegenüber, er suche das Gespräch, weil es ihm Wärme gibt, ebenso wie er seinen jahrelang gepeinigten Körper in sorgfältig ausgewählte wollene Pullover hüllt. Hat er nicht Angst, die Erinnerungen an die dunklen Jahre zu wecken? Fürchtet er nicht die Wiederbegegnung mit den Bildern der Peiniger, mit den Bildern der eigenen Erniedrigung, mit denen seiner gequälten Angehörigen und Freunde? «Nein, das Leiden war ja nicht sinnlos. Ich konnte meine Seele dagegen abschirmen, es betraf nur den Körper. Ich fühlte mich den Folterern überlegen. Ich, aber nicht ich allein, wir alle erlitten die Torturen wegen der Freiheit. Du wirst es verstehen. Es ging um die Freiheit unseres kolonisierten, unseres unterdrückten und gequälten Landes, es ging um Kurdistan.» Seine Augen blicken mich ruhig und aufmerksam an. Cemals Augen geben zu verstehen, dass seine Menschlichkeit ungebrochen ist, wenngleich sein geschundener Körper gebrechlich wirkt, hinfällig.

Damals, am 14. Januar 1984, als er und elf weitere politische Gefangene, darunter vier Frauen, im Militärgefängnis Nr. 5 von Diyarbakir mit dem Todesfasten begannen, hatte er schon drei Jahre Gefängnis hinter sich, Jahre der ununterbrochenen Tortur. Welch anderen Widerstand als jenen der Gewaltlosigkeit hätten sie leisten können? Es war nicht das erste Mal, dass sich die Gefangenen gegen die Menschenverachtung des Systems zur Wehr setzten. Etwas mehr als zwei Jahre zuvor, am 18. Mai 1982, hatten sich vier Mitgefangene aus Zelle 33 aus Protest gegen die fortgesetzten Entwürdigungen selber angezündet. Sie hiessen Ferhat Kurtay, Esref Anyak, Necmi Öner und Mahmut Zengin. Die Schreie der in der Zelle Miteingeschlossenen drangen auch in Zelle 27, in der Cemal sich befand, drangen durch alle Flure und alle Stockwerke des grossen Termitenbaus der Peinigung. «Wir litten mit ihnen, und ihr Tod hat den Widerstandswillen aller Gefangenen gestärkt.»

Einundvierzig Tage lang hatte Cemal Miran alle Nahrung verweigert, ausser ein paar Gläsern Wasser. Dann fiel er ins Koma. Als er daraus erwachte, war er gelähmt, konnte auch nicht mehr sprechen. Die Folgen wirken sich bis heute aus, die zitternden Hände, die Gleichgewichtsstörungen, anderes mehr, sagt Cemal, doch nicht bei ihm allein. Ein Mitgefangener, «halte seinen Namen fest, Fuat Cavgun», der ein bedeutender politischer Anführer war und nach zehn Jahren Gefängnis in Deutschland Asyl erhielt, trug noch schwerere Schäden davon. Wegen einer offenen Tuberkulose wurde Cemal damals nach dem Hungerstreik ins Spital eingeliefert, doch nach kurzer Zeit wieder in die Zelle zurückgeschafft, für weitere fünf Jahre.

Im April 1981 war Cemal Miran in Diyarbakir von der türkischen Polizei verhaftet worden, einer von rund 200'000 kurdischen Männern und Frauen, die zwischen dem Militärputsch ‚vom 12. September 1980 und den Wahlen vom 7. November 1983 erst in Polizeihaft genommen, dann in den überfüllten Gefängnissen eingelocht wurden. Einige Monate zuvor hatte Cemal sein Ingenieurstudium in Ankara abgebrochen und war wegen des kurdischen Freiheitskampfes nach Diyarbakir zurückgekehrt. Der Vater betrieb eine kleine Bäckerei. «Diyarbakir ist schön, fahr einmal hin! Wir hatten zwei Zimmer, eines diente als Küche, das andere zum Schlafen. Wir waren weder arm noch reich.» Im November 1981 wurde er, gleichzeitig mit Hunderten von anderen politischen Angeklagten, vor ein militärisches Sondergericht gestellt, je zwanzig bis dreissig an einer Kette gefesselt. Für den Prozess war ihnen eine Uniformjacke übergezogen worden, Verteidiger hatten sie keine, der Richter war ein Militärkommandant, nach Sondergesetzen wurden sie abgeurteilt und verurteilt, Cernal Miran zum Tod. Damals wurden 5712 Anträge auf Todesstrafe gestellt, 259 Todesurteile wurden ausgesprochen, 49 vollstreckt (nach «Cunihuriyet» vom 10. Juni 1983). Das über Cemal gesprochene Urteil wurde durch ein militärisches Kassationsgericht in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

Cemal nimmt an, dass jemand unter der Folter seinen Namen preisgegeben hatte. Als er in Polizeihaft war, wurde auch er einen vollen Monat lang gemartert, damit er Namen von Verbündeten aus den kurdischen Organisationen verrate, mit Stockhieben auf die Fusssohlen, mit Stromschlägen über Elektroden an den Zähnen, an den Fingern und am Penis. Er wurde an den auf dem Rücken gefesselten Händen in die Höhe gezogen, so dass die Schultergelenke auskugelten, wochenlang wurde er am Schlafen gehindert. Sein Vater wurde gleichzeitig verhaftet. «Die Alten wurden vor unseren Augen blutig geschlagen, Gummiknüppel wurden ihnen in den After getrieben, die Jungen, ja selbst Kinder mussten zusehen, um die Qual zu steigern, ein sadistisch ausgeklügeltes System. Viele brachen darunter zusammen.» Cemals Vater war 16 Monate lang gefoltert worden, dann erlag er einem Nierenversagen. Die Mutter wurde während sechs Wochen in Polizeihaft gehalten. Während Cemals Todesfasten im Februar 1984 wurde ihr zugetragen, ihr Sohn sei tot. Sie erlitt eine Herzkrise und starb wenige Wochen später. In all den Jahren überfielen immer wieder Schläger aus Kreisen der Polizei die kleine Bäckerei, die einer der Brüder weiterführte. Die Schwester, verlor darob den Verstand.

Langsam erzählt Cemal, Erinnerung reiht sich an Erinnerung. «Die Foltermethoden in den Gefängnissen hatten nicht mehr den Zweck, Informationen herauszupressen. Sie sollten die Menschen brechen, sie sollten den Stolz des kurdischen Widerstandes vernichten.» Spezialeinheiten der Armee wurden dafür eigens ausgebildet. Drei Jahre lang hatten Cemal Miran und seine Mitgefangenen die Peinigungen erdulden müssen, vom Mai 1981 an, bei Tag und bei Nacht ununterbrochene Tortur, nie, buchstäblich nie die geringste Entspannung. Hiebe und Schläge mit Eisenstangen, mit Militärgürteln und Holzstöcken, wo immer sie gingen und standen, militärischer Drill, Schmutz und Enge in den Zellen, verunreinigte und völlig ungenügende Nahrung. All das Entsetzliche, das Cemal Miran während der langen Stunden schildert, kann gar nicht wiedergegeben werden. Infolge des Widerstandes in den Gefängnissen verbesserten sich die Bedingungen ein wenig ab Ende 1983.

Zur psychischen Erniedrigung, zu den schwärenden Hautverletzungen, zur Erschöpfung infolge Schlaflosigkeit und Drill, Hunger und Krankheiten (Nierenschäden, Magengeschwüre, Herzkrankheiten, geschwollene Füsse, Tuberkulose usw.), zu den unerträglichen hygienischen Verhältnissen in den überfüllten Zellen kam die geistige Isolation. Bücher und Zeitungen, Papier und Schreibzeug waren verboten.

«Nicht zuletzt deswegen drehten Menschen durch, das war beinah nicht auszuhalten, auch wenn über neunzig Prozent der Gefangenen Dörfler und Arbeiter waren, einfache Menschen, der kleinste Teil Intellektuelle oder führende Männer und Frauen des Widerstandes.» Dichter und Dichterinnen, Schriftsteller und Journalisten waren unter ihnen. «Ich schreibe mit den Fingernägeln», hielt verzweifelt Izzet Harun Akcay, damals im Spezialgefängnis Bartin inhaftiert, fest. Die totale Isolation sollte nicht zuletzt das Zeitgefühl vernichten, sollte Verlorenheit schaffen und ein Gefühl der Endlosigkeit der Tortur. In den ersten drei Jahren wurde eine wöchentliche Besuchszeit von dreissig Sekunden (bis höchstens eine Minute) eingeräumt, unter ständiger Präsenz von Soldaten. Cemal hält minutenlang inne, bevor er weiterspricht. «Unter Stockhieben wurden je zehn Gefangene in einen Raum getrieben, der durch eine Glaswand unterteilt war, auf deren anderer Seite die Angehörigen ebenfalls von Soldaten drangsaliert wurden. Viele hatten tagelange Reisen hinter sich. Die kleinen Geschenke, die sie mitbrachten ‑ etwa dringend benötigte Kleider ‑, wurden von den Soldaten konfisziert und vor aller Augen zerrissen.» Um gegen diese Verhöhnung ihrer Rechte zu protestieren, trat eine grosse Anzahl von Gefangenen ab September 1983 wieder für siebenundzwanzig Tage in einen Hungerstreik.

Als Cemal Miran 1989 freigelassen wurde, befanden sich Tausende von Kurden weiterhin als politische Häftlinge in den Gefängnissen, Hunderte sind es noch heute. Cemal war körperlich kaum in der Lage, sich selbständig zu bewegen, doch er wollte leben, noch einmal leben, damit die Opfer aller, die für Kurdistan litten und kämpften, nicht vergeblich seien. In Diyarbakir war seine Existenz jedoch erneut bedroht. Faschistische Organisationen (die sogenannte Konterguerilla) stellten mit Mordkommandos den entlassenen politischen Gefangenen nach. Viele wurden auf offener Strasse erschossen. Am 15. Juni 1992 begann Cemals Flucht, zuerst durch die Berge nach Irakisch‑Kurdistan, von dort nach Syrien. In Damaskus meldete er sich bei der Uno‑Vertretung. Sein Name war bekannt. Er wurde medizinisch untersucht, bekam einen Pass und konnte einen Monat später in die Schweiz einreisen.

Wie lebt Cemal Miran hier, nun schon seit gut vier Jahren? Ist die Schweiz für Menschen, die so viel gelitten haben, ein geeigneter Ort? Er schaut mich ohne Bitterkeit an, denkt nach. «Wieder ist es die Isolation, die am schwersten zu ertragen ist.» Er lebt allein in einer kleinen Wohnung und versucht Deutsch zu lernen. Über das Schweizerische Rote Kreuz erhält er monatlich etwas über 900 Franken Unterstützung, was für die persönlichen Ausgaben reichen muss. Ab und zu trifft er andere kurdische Flüchtlinge, zweimal wöchentlich geht er in eine physiotherapeutische Behandlung. Zur Schweizer Bevölkerung hat er weniger Kontakte, als er sich erhofft hatte; im Grunde beschränken sie sich auf die Besuche der Rotkreuzbetreuerin und eines freiwilligen Rotkreuzhelfers. Er hat nirgendwo einen festen Platz. Das aber wünscht er sich. Denn hier, wo er nun ist, möchte er noch einmal leben. Überleben allein genügt nicht.

 

Die Namen der bosnischen Flüchtlinge wurden auf ihren Wunsch geändert.

Yusuf Yesilöz sowie Bekir Teker, die beide auch als politische Gefangene in türkischen Gefängnissen waren, danke ich für ihre Hilfe als Übersetzer bei den Gesprächen mit Cemal Miran.

 

© aus: Neue Zürcher Zeitung NZZ, 8./9. März 1997, von  Dr. M. Wicki

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