Ein
stattliches Haus mit hohem Giebel, einst für zwei Familien gebaut, mit einem
Garten in der Grösse eines zweiten Bauplatzes zur Seite, verbirgt sich hinter
den Kronen der Bäume, die noch im Erstellungsjahr an dessen Umfriedung zum
Schutz gegen Winde und Nachbarn gepflanzt worden waren, je eine Buche, eine
Linde und eine Birke, gleich alt und gleich hoch wie das Haus. Heute schützen
die Bäume die Nachbarn vor der einstigen Villa, die im Lauf der Zeit
verwitterte und nun trotz ihrer Grösse schäbig wirkt. Mitten im bürgerlichen
Quartier erscheint sie wie ein fremder Kontinent. Jahrelang beherbergte sie
Asylsuchende aus aller Welt, doch 1992, nach dem Ausbruch des Krieges in
Bosnien, wurde sie Frauen und Kindern zur Verfügung gestellt, die von den ethnischen
Säuberern vertrieben worden waren, fünfzig Frauen und Kindern, welche die
Schweiz zunächst für die Dauer von drei Monaten aufnahm, deren Aufenthalt aber
infolge des andauernden Kriegs sich in einer mehrmals erneuerten Vorläufigkeit
über mehrere Jahre bis zum letzten Spätherbst erstreckte. Als ich das Haus
kennenlernte, bebte es vor Unruhe, vor zusammengedrängten Schicksalen und
Spannungen. Durch die Wände und Korridore, von Stockwerk zu Stockwerk, drangen
aus den Zimmern Stimmen, Frauenstimmen, Radiostimmen, Kinderstimmen, schrille,
helle, flüsternde, dunkle. Spätnachts ebbten die Stimmen ab, verstummten
zeitweise, Säuglinge weinten in verzweifelten Stössen. Nach Mitternacht,
besonders gegen Morgengrauen gellten manchmal Schreie auf, die Schlaflosen
hielten den Atem an, Frauenstimmen dann, Schluchzen, Stille. Omer S. schrie fast
Nacht für Nacht.
Er
war neun Jahre alt gewesen, als in Br. der Krieg losging. In der Strasse, wo sie
wohnten, lebten fast lauter Verwandte, Onkel und Tanten und verschwägerte Onkel
und Tanten und deren Kinder. «Wir
waren im Haus drin, wir alle, es war noch früh, fast noch dunkel. Draussen war
plötzlich ein Geschrei, laut wurde gegen die Türe geschlagen, Männer in
Uniformen stürmten herein, einen kannte ich, er hatte in einer anderen Strasse
gewohnt. Wir wurden auf die Strasse getrieben. Der Vater wurde furchtbar
geschlagen, die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt.»
Omer legt den Kopf auf den Tisch, verbirgt sein Gesicht in den Armen, er
kann nicht weitersprechen.
Von
Fatinia S., der Mutter, erfahre ich, dass Omer von zwei Uniformierten weggeführt
wurde, dass ihm eine Pistole in die Hand gedrückt wurde, dass er gezwungen
wurde, die Pistole auf seinen Vater zu richten, der von den Schlägen aus dem
Mund blutete. Auch Fatima mit den zwei weinenden kleinen Mädchen an der Hand
habe geschrien, sie habe Omer zu sich ziehen wollen, zum Mann laufen wollen, um
ihn zu schützen, doch sie sei von Uniformierten mit Gewalt zurückgehalten und
gezwungen worden zuzuschauen. Die Tortur habe entsetzlich lange gedauert,
vielleicht auch nur Minuten, dann sei unter Hohngelächter Omer die
Pistole aus der Hand geschlagen worden.
«Der Bub fiel wimmernd zu Boden, sprang plötzlich auf, wollte zum Vater
rennen, doch dieser war schon weggetrieben worden, überall waren Uniformierte,
es wurde geschrien, geschossen, ein schrecklicher Lärm; hinten in der Strasse
brannte ein Haus, ein Camion fuhr vor, die Kinder und Frauen wurden
hinaufgetrieben wie Schafe, immer noch mehr, brutal, mit Schlägen, alle weinten
und schrien, dann fuhr der Camion los. Wir wussten nicht wohin. Alles blieb zurück.»
Die
Reise in die Schweiz dauerte Monate, die Erfahrungen unterwegs waren nochmals
traumatisierend. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes erfuhr Fatima
schliesslich, dass ihr Mann lebte, dass auch er nach Frau und Kindern geforscht
hatte. Er war den Schergen entkommen und hatte sich nach Kroatien, dann in die
Schweiz durchgeschlagen. Eines Tages traf er im Durchgangszentrum ein.
Alte Frauen und Kinder feierten ein Fest. Wochenlang wich Omer kaum von
seiner Seite. Allmählich wurden
die Albträume seltener.
Vor
einigen Monaten erhielt die kleine Familie den gefürchteten Brief aus Bern, ihr
Aufenthalt in der Schweiz sei abgelaufen, sie müssten wieder zurück in ihre
Heimat. «Ist Heimat dort, wo man vertrieben wurde?» fragt Fatima. Die
Schrecken von damals werden wieder wach und fallen über sie her wie Hunde. «Könnten
wir doch nochmals leben, ohne Angst, leben mit der Gewissheit, dass das Leben
sich lohnt, dass die Menschlichkeit stärker ist als die Bosheit. Weisst du wie?
Hier oder dort?»
Wie
könnte ich es wissen? «Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung
gegeben», hat Walter Benjamin in einem seiner Essays geschrieben, Jahre bevor
ihn die Nazis zum Flüchtling machten.
Es
gibt ein Kontinuum des Leidens, das nichts mit der menschlichen Sterblichkeit zu
tun hat, die zu ertragen schwer genug ist, sondern mit der Perversion des Quälens.
Die Geschichte der Gequälten ist zugleich die Geschichte des Widerstands gegen
Menschenverachtung und Unterdrückung, ist auch die Geschichte der immer wieder
versuchten Wiederherstellung der Menschlichkeit. Darin besteht die vielleicht
wichtigste Aufgabe der Therapie. Therapie soll ein Gegenmodell zum System der
Unterdrückung sein, «Therapie» ein anderes Wort für «Kultur», heisst es
bei Freud.
Im
August 1995 wurde in Bern das Therapiezentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes
(SRK) für Folteropfer eingerichtet, vor rund 17 Monaten hat es seine Tätigkeit
aufgenommen, seither haben an die hundert Menschen, die schwere psychische und körperliche
Gewalterfahrungen durchgemacht haben, um eine Therapie nachgesucht. Auch wenn
die Finanzierung auf wackligen Füssen steht und die Mittel überaus knapp sind,
konnten an die sechzig Frauen und Männer Hilfe finden. Mehr Geld und eine grössere
Anzahl fähiger Therapeutinnen und Therapeuten wären erforderlich, um den Bedürfnissen
der vielen traumatisierten Flüchtlinge genügen zu können. Im Frühsommer 1996
begann daher an der Universität Bern für ein paar Dutzend Fachleute aus der
ganzen Schweiz eine interdisziplinäre Weiterbildung, die Conrad Frey, der
Leiter des Therapiezentrums, ein Spezialarzt in Psychiatrie und Psychotherapie,
gemeinsam mit dem Völkerrechtsprofessor Walter Kälin organisiert.
*
Zu
den Flüchtlingen, denen geholfen werden konnte, gehört Eniza Z. Seit die junge
Frau im Sommer 1993 mit ihren Eltern und ihrem damals zweijährigen Sohn aus dem
kriegsverwüsteten Bosnien in die Schweiz gekommen war, quälten sie Albträume
und ständige Traurigkeit. Schon im Durchgangslager, wohin sie mit Hunderten von
Frauen und Kindern aus der Umgebung von Be. getrieben worden war, hatte sie
darunter gelitten, aber dort gab es einen Zusammenhalt im Entsetzen und in der
Ratlosigkeit. Zugleich brannte damals noch ein kleines Licht in ihr: die
Hoffnung, dass ihr Mann lebte. In der Schweiz jedoch nahm das Gefühl der
inneren Lähmung und der Verlorenheit überhand, obwohl es ihr hier, fern vom
Krieg, eigentlich hätte besser gehen sollen. Das kleine Licht wärmte kaum
mehr, wurde immer schwächer und matter. Die Therapeutin hörte zu, und indem
Eniza erzählte, erkannte sie zunehmend klarer, worunter sie litt.
Eines
Morgens im Herbst 1992 waren mit Gewehren bewaffnete Uniformierte ins Haus gestürmt,
hatten sie, ihre Mutter und das Kind aus dem Keller gejagt, in dem sie sich
versteckt gehalten hatten, und. so wie sie waren, ohne Schuhe an den Füssen und
ohne ein Milchfläschchen für das Kind, wurden sie weiter getrieben in den
Hangar, wo eng zusammengedrängt die andern Frauen und Kinder des Ortes im
ungewissen ausharrten. Das war ein Weinen und eine Verzweiflung, kaum
auszuhalten, zumal damals niemand wusste, was mit den Männern geschehen war.
Sowohl
Enizas Vater als auch ihr Ehemann waren von serbischen Soldaten gefangengenommen
worden. Mehr konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Wo immer sie Fragen stellte,
stiess sie auf eine Mauer des Schweigens. Einige Monate später kam der Vater
aus einem der Gefangenenlager frei, nachdem das IKRK Zutritt erhalten und die
Weltpresse über die von den Insassen erduldeten KZ‑ähnlichen Torturen zu
berichten begonnen hatte.
Der
Vater wurde mit seiner engsten Familie ‑ seiner Frau, seiner Tochter Eniza
und deren kleinem Sohn ‑ in der Schweiz als anerkannte Flüchtlinge
aufgenommen. Über die Zeit im Lager schwieg er sich aus. Wo war Enizas Ehemann?
Warum war er nicht mit dem Vater aus dem Lager entlassen worden? Je länger das
Nichtwissen andauerte, desto schwächer wurde Enizas Lebenskraft. Die
Wirklichkeit zog sich immer mehr zurück, das Gefühl der Leere und eine
beklemmende, unbenennbare Angst beherrschten sie zunehmend. Eines Tages, als das
Fernsehgerät eingeschaltet war, wurden über den bosnischen Sender Namen getöteter
Gefangener verlesen, Hunderte von Namen. So erfuhr Eniza, dass ihr Mann tot war.
Endlich hatten ihre Gefühle wieder einen Namen. Trauer überflutete sie, auch Grauen und Mitleid, als sie allmählich vom Vater erfuhr, was sich im Lager zugetragen hatte. Auch er musste nun nicht länger schweigen: «Es ist Zeit, Eniza, dass du es weisst.» Ihr Samir war mit etwa fünfzig anderen Gefangenen in einen Raum gepfercht worden. So eng war es, dass sie sich kaum bewegen, geschweige denn ausstrecken konnten. Als die Gefangenen protestierten und mehr Platz forderten, fielen Dutzende von Soldaten über sie her und schlugen sie mit Kolben und Eisenstangen zu Tode, alle fünfzig, ohne Ausnahme.
Heute
weiss Eniza, wo ihr Platz ist. Sie will leben, auch hier in der Schweiz will sie
nicht bloss überleben. Ihr Sohn soll ohne Hass aufwachsen; die Spiele teilt er
mit Kindern aus Kroatien und aus Serbien, die im gleichen Haus wohnen. Grosse
Sorgfalt lässt sie allem angedeihen, was im Krieg entwertet worden war, von
ihrem Äussern über die Gestaltung der Wohnung bis zu den Beziehungen mit den
ihr verbliebenen nahestehenden Menschen. Da wo sie Asyl gefunden hat, soll der
Krieg nicht weitergehen. Doch unversehens, ohne Vorwarnung, geschieht es, dass
er Eniza wieder einholt, dass irgendeine banale Kleinigkeit sie in eine
Situation des Schreckens zurückwirft. Neulich, als ihre Mutter eine Suppe
zubereitete, sah sie anstelle der Mutter eine der Nachbarinnen im
Durchgangslager vor einem leeren Topf stehen, um sie herum die weinenden Kinder.
Nichts hatte die Frau gehabt, um den Hunger der Kinder zu stillen. Wie damals
wurde Eniza von Panik ergriffen, in der aufgezwungenen Hilflosigkeit selber
ihrem Kinde gegenüber schuldig zu werden.
*
Viele
Flüchtlinge, die lange Jahre der Quälerei durchgestanden haben, fühlen sich
jenen gegenüber in der Schuld, die nicht mehr leben. Der Kurde Cemal Miran, der
neun qualvolle Jahre in türkischen Gefängnissen zubringen musste, bat mich
eindringlich, vor allem die Namen jener aufzuschreiben, die für, die Freiheit
Kurdistans mit ihrem Leben bezahlten. Er selber starb mehrere Tode, scheint mir,
obwohl er lebt. Heute kann er wieder gehen, langsam, schwankend, Die Füsse
schiebt er dem Boden entlang, hebt sie behutsam über Unebenheiten hinweg, über
Türschwellen und niedere Stufen. Kopf und Hände zittern, das Sprechen bereitet
Mühe.
Cemal
ist 36 Jahre alt, grossgewachsen und schmal. Im Gespräch lebt er spürbar auf.
Ich habe das Gefühl, er sei fürsorglich sich selbst gegenüber, er suche das
Gespräch, weil es ihm Wärme gibt, ebenso wie er seinen jahrelang gepeinigten Körper
in sorgfältig ausgewählte wollene Pullover hüllt. Hat er nicht Angst, die
Erinnerungen an die dunklen Jahre zu wecken? Fürchtet er nicht die
Wiederbegegnung mit den Bildern der Peiniger, mit den Bildern der eigenen
Erniedrigung, mit denen seiner gequälten Angehörigen und Freunde? «Nein, das
Leiden war ja nicht sinnlos. Ich konnte meine Seele dagegen abschirmen, es
betraf nur den Körper. Ich fühlte mich den Folterern überlegen. Ich, aber
nicht ich allein, wir alle erlitten die Torturen wegen der Freiheit. Du wirst es
verstehen. Es ging um die Freiheit unseres kolonisierten, unseres unterdrückten
und gequälten Landes, es ging um Kurdistan.» Seine Augen blicken mich ruhig
und aufmerksam an. Cemals Augen geben zu verstehen, dass seine Menschlichkeit
ungebrochen ist, wenngleich sein geschundener Körper gebrechlich wirkt, hinfällig.
Damals,
am 14. Januar 1984, als er und elf weitere politische Gefangene, darunter vier
Frauen, im Militärgefängnis Nr. 5 von Diyarbakir mit dem Todesfasten begannen,
hatte er schon drei Jahre Gefängnis hinter sich, Jahre der ununterbrochenen
Tortur. Welch anderen Widerstand als jenen der Gewaltlosigkeit hätten sie
leisten können? Es war nicht das erste Mal, dass sich die Gefangenen gegen die
Menschenverachtung des Systems zur Wehr setzten. Etwas mehr als zwei Jahre
zuvor, am 18. Mai 1982, hatten sich vier Mitgefangene aus Zelle 33 aus Protest
gegen die fortgesetzten Entwürdigungen selber angezündet. Sie hiessen Ferhat
Kurtay, Esref Anyak, Necmi Öner und Mahmut Zengin. Die Schreie der in der Zelle
Miteingeschlossenen drangen auch in Zelle 27, in der Cemal sich befand, drangen
durch alle Flure und alle Stockwerke des grossen Termitenbaus der Peinigung. «Wir
litten mit ihnen, und ihr Tod hat den Widerstandswillen aller Gefangenen gestärkt.»
Einundvierzig
Tage lang hatte Cemal Miran alle Nahrung verweigert, ausser ein paar Gläsern
Wasser. Dann fiel er ins Koma. Als er daraus erwachte, war er gelähmt, konnte
auch nicht mehr sprechen. Die Folgen wirken sich bis heute aus, die zitternden Hände,
die Gleichgewichtsstörungen, anderes mehr, sagt Cemal, doch nicht bei ihm
allein. Ein Mitgefangener, «halte seinen Namen fest, Fuat Cavgun», der ein
bedeutender politischer Anführer war und nach zehn Jahren Gefängnis in
Deutschland Asyl erhielt, trug noch schwerere Schäden davon. Wegen einer
offenen Tuberkulose wurde Cemal damals nach dem Hungerstreik ins Spital
eingeliefert, doch nach kurzer Zeit wieder in die Zelle zurückgeschafft, für
weitere fünf Jahre.
Im
April 1981 war Cemal Miran in Diyarbakir von der türkischen Polizei verhaftet
worden, einer von rund 200'000 kurdischen Männern und Frauen, die zwischen dem
Militärputsch ‚vom 12. September 1980 und den Wahlen vom 7. November 1983
erst in Polizeihaft genommen, dann in den überfüllten Gefängnissen eingelocht
wurden. Einige Monate zuvor hatte Cemal sein Ingenieurstudium in Ankara
abgebrochen und war wegen des kurdischen Freiheitskampfes nach Diyarbakir
zurückgekehrt. Der Vater betrieb eine kleine Bäckerei. «Diyarbakir ist schön,
fahr einmal hin! Wir hatten zwei Zimmer, eines diente als Küche, das
andere zum Schlafen. Wir waren weder arm noch reich.» Im November 1981 wurde
er, gleichzeitig mit Hunderten von anderen politischen Angeklagten, vor ein
militärisches Sondergericht gestellt, je zwanzig bis dreissig an einer Kette
gefesselt. Für den Prozess war ihnen eine Uniformjacke übergezogen worden,
Verteidiger hatten sie keine, der Richter war ein Militärkommandant, nach
Sondergesetzen wurden sie abgeurteilt und verurteilt, Cernal Miran zum Tod.
Damals wurden 5712 Anträge auf Todesstrafe gestellt, 259 Todesurteile wurden
ausgesprochen, 49 vollstreckt (nach «Cunihuriyet» vom 10. Juni 1983). Das über
Cemal gesprochene Urteil wurde durch ein militärisches Kassationsgericht in
zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.
Cemal
nimmt an, dass jemand unter der Folter seinen Namen preisgegeben hatte. Als er
in Polizeihaft war, wurde auch er einen vollen Monat lang gemartert, damit er
Namen von Verbündeten aus den kurdischen Organisationen verrate, mit
Stockhieben auf die Fusssohlen, mit Stromschlägen über Elektroden an den Zähnen,
an den Fingern und am Penis. Er wurde an den auf dem Rücken gefesselten Händen
in die Höhe gezogen, so dass die Schultergelenke auskugelten, wochenlang wurde
er am Schlafen gehindert. Sein Vater wurde gleichzeitig verhaftet. «Die Alten
wurden vor unseren Augen blutig geschlagen, Gummiknüppel wurden ihnen in den
After getrieben, die Jungen, ja selbst Kinder mussten zusehen, um die Qual zu
steigern, ein sadistisch ausgeklügeltes System. Viele brachen darunter
zusammen.» Cemals Vater war 16 Monate lang gefoltert worden, dann erlag er
einem Nierenversagen. Die Mutter wurde während sechs Wochen in Polizeihaft
gehalten. Während Cemals Todesfasten im Februar 1984 wurde ihr zugetragen, ihr
Sohn sei tot. Sie erlitt eine Herzkrise und starb wenige Wochen später. In all
den Jahren überfielen immer wieder Schläger aus Kreisen der Polizei die kleine
Bäckerei, die einer der Brüder weiterführte. Die Schwester, verlor darob den
Verstand.
Langsam
erzählt Cemal, Erinnerung reiht sich an Erinnerung. «Die Foltermethoden in den
Gefängnissen hatten nicht mehr den Zweck, Informationen herauszupressen. Sie
sollten die Menschen brechen, sie sollten den Stolz des kurdischen Widerstandes
vernichten.» Spezialeinheiten der Armee wurden dafür eigens ausgebildet. Drei
Jahre lang hatten Cemal Miran und seine Mitgefangenen die Peinigungen erdulden müssen,
vom Mai 1981 an, bei Tag und bei Nacht ununterbrochene Tortur, nie, buchstäblich
nie die geringste Entspannung. Hiebe und Schläge mit Eisenstangen, mit Militärgürteln
und Holzstöcken, wo immer sie gingen und standen, militärischer Drill, Schmutz
und Enge in den Zellen, verunreinigte und völlig ungenügende Nahrung. All das
Entsetzliche, das Cemal Miran während der langen Stunden schildert, kann gar
nicht wiedergegeben werden. Infolge des Widerstandes in den Gefängnissen
verbesserten sich die Bedingungen ein wenig ab Ende 1983.
Zur psychischen Erniedrigung, zu den schwärenden Hautverletzungen, zur Erschöpfung infolge Schlaflosigkeit und Drill, Hunger und Krankheiten (Nierenschäden, Magengeschwüre, Herzkrankheiten, geschwollene Füsse, Tuberkulose usw.), zu den unerträglichen hygienischen Verhältnissen in den überfüllten Zellen kam die geistige Isolation. Bücher und Zeitungen, Papier und Schreibzeug waren verboten.
«Nicht
zuletzt deswegen drehten Menschen durch, das war beinah nicht auszuhalten, auch
wenn über neunzig Prozent der Gefangenen Dörfler und Arbeiter waren, einfache
Menschen, der kleinste Teil Intellektuelle oder führende Männer und Frauen des
Widerstandes.» Dichter und Dichterinnen, Schriftsteller und Journalisten waren
unter ihnen. «Ich schreibe mit den Fingernägeln», hielt verzweifelt Izzet
Harun Akcay, damals im Spezialgefängnis Bartin inhaftiert, fest. Die totale
Isolation sollte nicht zuletzt das Zeitgefühl vernichten, sollte Verlorenheit
schaffen und ein Gefühl der Endlosigkeit der Tortur. In den ersten drei Jahren
wurde eine wöchentliche Besuchszeit von dreissig Sekunden (bis höchstens eine
Minute) eingeräumt, unter ständiger Präsenz von Soldaten. Cemal hält
minutenlang inne, bevor er weiterspricht. «Unter Stockhieben wurden je zehn
Gefangene in einen Raum getrieben, der durch eine Glaswand unterteilt war, auf
deren anderer Seite die Angehörigen ebenfalls von Soldaten drangsaliert wurden.
Viele hatten tagelange Reisen hinter sich. Die kleinen Geschenke, die sie
mitbrachten ‑ etwa dringend benötigte Kleider ‑, wurden von den
Soldaten konfisziert und vor aller Augen zerrissen.» Um gegen diese Verhöhnung
ihrer Rechte zu protestieren, trat eine grosse Anzahl von Gefangenen ab
September 1983 wieder für siebenundzwanzig Tage in einen Hungerstreik.
Als
Cemal Miran 1989 freigelassen wurde, befanden sich Tausende von Kurden weiterhin
als politische Häftlinge in den Gefängnissen, Hunderte sind es noch heute.
Cemal war körperlich kaum in der Lage, sich selbständig zu bewegen, doch er
wollte leben, noch einmal leben, damit die Opfer aller, die für Kurdistan
litten und kämpften, nicht vergeblich seien. In Diyarbakir war seine Existenz
jedoch erneut bedroht. Faschistische Organisationen (die sogenannte
Konterguerilla) stellten mit Mordkommandos den entlassenen politischen
Gefangenen nach. Viele wurden auf offener Strasse erschossen. Am 15. Juni 1992
begann Cemals Flucht, zuerst durch die Berge nach Irakisch‑Kurdistan, von
dort nach Syrien. In Damaskus meldete er sich bei der Uno‑Vertretung. Sein
Name war bekannt. Er wurde medizinisch untersucht, bekam einen Pass und konnte
einen Monat später in die Schweiz einreisen.
Wie
lebt Cemal Miran hier, nun schon seit gut vier Jahren? Ist die Schweiz für
Menschen, die so viel gelitten haben, ein geeigneter Ort? Er schaut mich ohne
Bitterkeit an, denkt nach. «Wieder ist es die Isolation, die am schwersten zu
ertragen ist.» Er lebt allein in einer kleinen Wohnung und versucht Deutsch zu
lernen. Über das Schweizerische Rote Kreuz erhält er monatlich etwas über 900
Franken Unterstützung, was für die persönlichen Ausgaben reichen muss. Ab und
zu trifft er andere kurdische Flüchtlinge, zweimal wöchentlich geht er in eine
physiotherapeutische Behandlung. Zur Schweizer Bevölkerung hat er weniger
Kontakte, als er sich erhofft hatte; im Grunde beschränken sie sich auf die
Besuche der Rotkreuzbetreuerin und eines freiwilligen Rotkreuzhelfers. Er hat
nirgendwo einen festen Platz. Das aber wünscht er sich. Denn hier, wo er nun
ist, möchte er noch einmal leben. Überleben allein genügt nicht.
Die
Namen der bosnischen Flüchtlinge wurden auf ihren Wunsch geändert.
Yusuf Yesilöz sowie Bekir Teker, die beide auch als politische Gefangene in türkischen Gefängnissen waren, danke ich für ihre Hilfe als Übersetzer bei den Gesprächen mit Cemal Miran.
© aus: Neue Zürcher Zeitung NZZ, 8./9. März 1997, von Dr. M. Wicki